Bist du auf den Begriff der Phänomenologie gestoßen, aber hast keinen blassen Schimmer was sich dahinter verbirgt?
Dann ist dieser Artikel wie für dich gemacht.
Wir blicken gemeinsam hinter die Fassade von mysteriösen Wörtern wie „Transzendentrale Reduktion“, „Epoché“ oder. „Wesensschau“. Das klingt irgendwie, als hätte das nicht mehr ganz so viel mit der empirischen Wissenschaft zu tun, wie wir sie kennen. Genau, und deshalb ist das Thema so spannend.
Aber keine Angst, ich erkläre dir in verständlicher Sprache, was es mit der Phänomenologie auf sich hat und wie du diese Denkrichtung und Methodik abseits der philosophischen Texte praktisch anwenden kannst.
Inhaltsverzeichnis
Die Philosophie hinter der Phänomenologie (Husserl)
Die Phänomenologie ist eine Philosophie, die im Jahr 1900 ihren Ursprung fand. Und zwar mit der Veröffentlichung der „Logischen Untersuchungen“ von Edmund Husserl. In diesem Werk führte der Philosoph eine neuartige Methode zur Untersuchung und Erforschung des Bewusstseins ein.
Was für ein Paukenschlag!
Zu dieser Zeit erhob die noch junge Disziplin der Psychologie den Anspruch, das Phänomen des Bewusstseins zu erforschen. Um zu verstehen, warum Husserls Vorstoß so radikal war, müssen wir uns das vorherrschende Paradigma der damaligen Psychologie vor Augen führen.
Die Psychologie war dominiert durch den Positivismus, also die numerisch-empirische Untersuchung psychologischer Phänomene nach dem Vorbild der Naturwissenschaften. Heute ist das in der Psychologie immer noch so, aber nicht ganz so dogmatisch wie damals.
Wenn du mehr Positivismus und den Unterschied zu anderen epistemologischen Positionen erfahren möchtest, gönn‘ dir einen Blick auf mein Tutorial zu Ontologie, Epistemologie und Methodologie.
Die Phänomenologie ist der positivistischen Idee völlig entgegengesetzt. Dementsprechend war der Aufschrei über Husserls neuen Ansatz groß.
Husserl’s Problem mit dem vorherrschenden naturwissenschaftliche Ansatz war, dass das erkennende Individuum immer ignoriert wird. Dabei können die Dinge uns ja unterschiedlich erscheinen, je nach dem wie dein oder mein Bewusstsein sie uns darbieten.
Die Phänomenologie hatte es damals schwer akzeptiert zu werden und ist auch heute eher in einer Außenseiterrolle. Nichtsdestotrotz hat Husserl damit Philosophiegeschichte geschrieben. Sie gilt als eine der wichtigsten Denkschulen, die in Europa ihren Ursprung haben.
Die Grundidee der Phänomenologie
Die Phänomenologie beschäftigt sich mit dem Phänomen des Bewusstseins und seiner verschiedenen Erscheinungsformen. Das Phänomen ist „das was erscheint“ und die Logie ist die Wissenschaft. Die Phänomenologie ist also die Wissenschaft von den Dingen, wie sie uns erscheinen.
Husserl zufolge bieten die Erscheinungen der Dinge, wie wir sie in unserem Bewusstsein wahrnehmen, die stärkste Aussagekraft, wenn es um neue Erkenntnisse geht.
Die „exakten“ Naturwissenschaften sind also nicht der einzige Weg, um neues Wissen zu erlangen, so Husserl. Auch die Wissenschaft des „Inneren“, bei der man sich der Welt durch die subjektive Erfahrung nähert, kann erfolgreich zu neuer Erkenntnis führen. Insbesondere darüber, wie wir die Dinge erkennen.
Die phänomenologische Forschung solle sich an den Dingen an sich orientieren, so wie sie erfahren werden – frei von Annahmen und und Vorurteilen.
Nach Husserl sind zwei Aspekte zentral, wenn es um die Erforschung des Bewusstseins geht.
(Achtung, jetzt wird es etwas abgefahren)
#1 Bewusstsein ist intentional
Wenn wir Erfahrungen im Bewusstsein machen, so Husserl, tun wir das immer in Richtung eines Objekts. Dieses Objekt kann…
- echt sein (z.B. der Baum vor deinem Fenster)
- tot sein (z.B. Edmund Husserl)
- ein von unserem Bewusstsein geschaffenes Bild sein (z.B. deine Vorstellung von Hawaii – wenn du noch nie da warst)
Da muss man erstmal drauf kommen. Jetzt wird es noch verrückter:
Ein intentionaler Akt des Bewusstseins kann „voll“ oder „leer“ sein. Stell dir vor, du stehst morgens auf und greifst zu deiner Brille auf dem Nachttisch. Die liegt dort, du weißt, dass du sie brauchst und du setzt sie auf.
Jetzt stell dir vor, du hast sie am Abend vorher irgendwo verlegt. Jetzt stehst du auf mit der Mission diese Brille zu finden. Ein völlig zerknitterter Mensch wankt trunken durch die Wohnung und tastet diverse Gegenstände ab. Ein völlig absurdes Bild, oder? Mit der „leeren“ Intention, die Brille zu finden, die so eindeutig vor deinem geistigen Auge zu sehen ist, macht dieses Schauspiel aber wieder völlig logisch.
#2 Bewusstsein ist getrennt von den Sinnen
Der zweite Grundsatz der Phänomenologie besagt, dass das sensorische Erleben etwas anderes ist, als das Erleben im Bewusstsein. Wenn wir etwas fühlen oder sehen, dann nehmen wir das im Bewusstsein war, so viel ist klar. Das Bewusstsein ist sozusagen das Betriebssystem, um die sensorische Wahrnehmung zu verarbeiten.
Darüber hinaus können wir aber noch ganz anders Dinge wahrnehmen. Stell dir vor, du stehst unter der Dusche und dir kommt aus heiterem Himmel eine Idee. Wo kam die her?
Es gab keinen externen Reiz oder Erleben, was die Idee getriggert hat. Das Bewusstsein kann also sowohl das Medium für sensorische, als auch nicht-sensorische Erlebnisse sein.
Wenn wir also das Bewusstsein erforschen möchten, dann müssen wir laut Husserl beide Grundsätze verinnerlichen.
Die Phänomenologische Methode
Okay, und wie erforscht man nun das Bewusstsein?
Wenn es nach Husserl geht, dann am besten durch einen Prozess aus drei Schritten.
- Eine Beschreibung des Objekts, das erforscht werden soll
- Die transzendentale und phänomenologische Reduktion
- Die Wesensschau
Bevor diese 3 Schritte durchgeführt werden, möchte Husserl, dass du als forschende Person alles Wissen außen vor lässt, das nicht aus der Quelle der Bewusstseinserfahrung stammt. Das nennt man „Ausklammern“ oder auch die „Epoché“.
Wenn du beispielsweise ein Meta-Verse Videospiel phänomenologisch erforscht, dann musst du vergessen, was du in wissenschaftlichen Papern darüber gelesen oder im Film „Ready Player One“ gesehen hast.
#1 Eine Beschreibung des Objekts, das erforscht werden soll
Im ersten Schritt geht es darum, die Erfahrung mit dem zu erforschenden Objekt so gut und so detailliert wie möglich zu beschreiben. Und zwar immer von der Person, die die Erfahrung macht (anders als bei einer herkömmlichen wissenschaftlichen Beobachtung)
In der Phänomenologie ist die forschende Person und das Forschungssubjekt oft das selbe Individuum. Das bedeutet, dass die Philosophin ihre eigenen Erfahrungen niederschreibt.
Wenn phänomenologische Methoden beispielsweise heute in Sozialwissenschaftlichen Disziplinen angewendet werden, dann erfolgt die Beschreibung über Interviews. Du bist dann in der Rolle der forschenden Person und versuchst die bestmögliche Beschreibung des Erlebnisses aus deinem Gegenüber herauszubekommen.
Du solltest dich im Gespräch so gut wie möglich zurückhalten und versuchen dein Gegenüber zum Reden zu bringen. Weiterführende Literatur zu phenomenologischen Interviews habe ich dir unter dem Youtubevideo verlinkt.
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#2 Die transzendentale und phänomenologische Reduktion
In diesem Schritt soll sich die forschende Person in eine transzendentale Grundstimmung begeben. Das bedeutet, dass jegliche empirisches Wissen, das über das Objekt bekannt ist, vergessen wird. Es zählt nur die Erfahrung des Bewusstseins. Die Bedingungen der Erfahrungen werden hier philosophisch reflektiert.
Für die Anwendung der Phänomenologie, wenn wir nicht gerade Philosophen wie Husserl sind, müssen wir auch hier wieder etwas von der originalen Husserlschen Methode abweichen.
Während Husserl in diesem Schritt alles ausklammern würde, also auch die Außenwelt, in der die Person mit der Bewusstseinserfahrung unterwegs ist, würde man hier einen Kompromiss machen. So wird die Erfahrung unter Berücksichtigung des „Horizonts“, also den situativen Umständen und Einflüssen der Außenwelt interpretiert.
Wenn also jemand seine Erfahrung im Metaverse beschreibt, dann behalten wir als Forschende immer noch im Blick, dass es sich dabei um ein Computerspiel handelt und ordnen die Beschreibung dahingehend ein.
#3 Die Wesensschau in der Phänomenologie
Im letzten Schritt versucht Husserl sich darüber klar zu werden, wie ihm das Objekt erscheint. Er führt dann imaginäre Variationen durch und überprüft, ob sich etwas ändert. Wenn sich durch die Variation das Bild verändert, ändert sich auch sein Ergebnis, also wie ihm das Objekt oder Wesen erscheint.
Auch diese Methodik wäre für unsere Zwecke etwas abenteuerlich.
Moderne Phämomenologen würden sich hier die Rohdaten, also die Beschreibungen aus den Interviews vornehmen. Mithilfe einer induktiven Logik werden dann Gemeinsamkeiten und Muster in den Daten erkannt. Hier gibt es verschiedenste Ansätze.
Du kannst dir diese Analyse als verwandt zur induktiven Kategorienbildung oder Grounded Theory vorstellen. Für exakte Schritte der Datenanalyse suchst du dir am besten einen Ansatz heraus, den du dann anwendest. Ich finde den von Giorgi (2017) am besten.
Fazit
Du merkst schon, das mit der Phänomenologie ist gar nicht so einfach. Wenn du nicht gerade Philosophie studierst, dann ist es auch in Ordnung, wenn du nicht komplett alle Gedanken von Edmund Husserl nachvollziehen kannst. Das tun die wenigsten.
Lass dich also nicht von der komplizierten Sprache und den Wortschöpfungen Husserls abschrecken.
Wenn du es auf die Methodik abgesehen hast, die wirklich eine richtig spannende Alternative zu den herkömmlichen empirischen Methoden ist, dann empfehle ich dir mit Sekundärliteratur wie der von Giorgi et al. (2017) zu starten und die Methode einfach mal auszuprobieren. Learning by doing!
Wenn du auf dem Weg zu mehr Erfolg im Studium noch ein wenig Starthilfe für deine wissenschaftliche Arbeit benötigst, dann habe noch ein PDF für dich, das du dir gratis herunterladen kannst:
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