Die Netnographie ist ein qualitativer Forschungsansatz, der sich auf die Untersuchung von Online-Communities und ihrer Verhaltensweisen konzentriert. Das Vorgehen wurde von Robert Kozinets erstmals entwickelt und ist heute ein unverzichtbares Instrument für die Sozialwissenschaften geworden.
In diesem Artikel erkläre ich dir die Grundlagen der Netnographie anhand der 12 Phasen nach Kozinets und zeige dir, wie du sie problemlos anwenden kannst. So verknüpfst du deine Untersuchung, mit einer etablierten Methodologie und bekommst hoffentlich spannende Ergebnisse, zu dem Online-Phänomen, das du untersuchst.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Was ist Netnographie?
- 2 Die Phasen der Netnographie nach Kozinets
- 3 #1 Introspektions-Phase
- 4 #2 Investigations-Phase
- 5 #3 Informations-Phase
- 6 #4 Inititale Interview Phase
- 7 #5 Inspektions-Phase
- 8 #6 Interaktions-Eintritts-Phase
- 9 #7 Immersions-Phase
- 10 #8 Indexierungs-Phase
- 11 #9 Interpretations-Phase
- 12 #10 Iterations-Phasen
- 13 #11 Instanzierungs-Phase
- 14 #12 Integrations-Phase
Was ist Netnographie?
Netnographie ist eine Modifikation des Begriffs Ethnographie. Es handelt sich also um einen Forschungsansatz, der sich mit Feldforschung im Internet beschäftigt.
Der Urheber dieser Methodologie ist Robert Kozinets, der den Ansatz in seinem Buch „Netnography“ aus 2010 ausführlich beschreibt.
Bis zu diesem Zeitpunkt war die Online-Forschung sehr darauf bedacht, möglichst präzise und quantitative Untersuchungen auf Social Media oder in Online-Foren durchzuführen.
Wie oft wurde ein Tweet geliked und wie hängt das mit der Reichweite zusammen? Wie bilden sich Netzwerke auf sozialen Medien? Was sind statistische Zusammenhänge, die sich vom Verhalten der User ableiten lassen?
All diese Fragen sind gut und wichtig, aber nicht von Interesse für die Netnographie. Hier geht es darum, den Kontext dieses Verhaltens zu verstehen und zu beleuchten, wer eine bestimmte Verhaltensweise an den Tag legt und warum.
Wenn du dir klarmachst, was die klassische Feldforschung (Ethnographie) versucht, dann verstehst du auch den Netnographie Ansatz auf Anhieb. Es geht um die Beobachtung von Gruppen und dem Verhalten ihrer Mitglieder. Die Netnographie überträgt diesen Forschungsansatz nur eben auf die Online-Welt.
Die Phasen der Netnographie nach Kozinets
In der zweiten Auflage seines Buches aus 2015 unterteilt Kozinets den Forschugnsansatz der Netnography in 12 Phasen. Schauen wir uns diese ein mal gemeinsam an.
#1 Introspektions-Phase
Bevor du dein Smartphone rausholst und für immer in den Tiefen von reddit verschwindest, musst du ein paar elementare Fragen über dich selbst klären.
Dieser Schritt hängt mit der Natur der Ethnographie zusammen. Diese Art der Forschung ist zu einhundert Prozent von dir als forschender Person abhängig. Das bedeutet, all dein Vorwissen zu dem Thema, dein Lebenslauf und deine persönliche Motivation wirken sich auf das Design deiner Netnographie aus.
Schreibe den Status Quo deines Forschungs-Ichs auf, damit du diesen in deiner wissenschaftlichen Arbeit beschreiben und reflektieren kannst.
#2 Investigations-Phase
Falls du ein Exposé zu deiner Netnographie schreibst, ist das der richtige Ort, um die Antworten auf diese Fragen festzuhalten. Falls du das alles nicht brauchst, finde einen anderen Weg, sie für dich festzuhalten.
- Welches Phänomen möchtest du untersuchen? (Formuliere eine Forschungsfrage)
- Wie möchtest du das Phänomen untersuchen?
- Welche Daten möchtest du dafür sammeln?
- Wie willst du die Analyse der Daten durchführen?
- Wie soll die Analyse zur Beantwortung der Forschungsfrage beitragen?
- Welche Rolle spielst du selbst während der Netnographie?
- Unter welchen ethischen Aspekten behandelst du deine Netnographie?
- Welche Vorteile bringt die Netnographie gegenüber anderen Forschungsdesigns?
- Welche Risiken birgt eine Netnographie in deinem Fall (für Forschungssubjekte)?
Besonders wichtig, um nun mit deiner Netnographie fortzufahren, ist die Bestimmung der „study sites“, also der Orte, an denen du deine Untersuchung durchführen möchtest. Ist es eine Facebook-Gruppe? Ein Reddit-Forum? Ein YouTube-Kanal?
Wer sind die Individuen, die sich dort aufhalten? Wie müsste der Ort aussehen, der für deine Forschung bestmöglich geeignet ist?
#3 Informations-Phase
Die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen bevor du überhaupt startest, ist besonders wichtig. Bei einer Netnographie dringst du unter Umständen in einen geschützten Raum ein.
Die User, die sich dort tummeln, haben bestimmte Erwartungen an diesen Raum und ihre Privatsphäre. Wenn du dort nun Daten erhebst, ist es besonders wichtig, dies ethisch korrekt zu tun.
An oberster Stelle steht der sogenannte „Informed Consent“. Das bedeutet, dass du die Mitglieder der Online-Community darüber informierst, wie deine Forschung abläuft und du ihre Zustimmung einholst. An dieser Stelle kannst du also einen Text oder ein Dokument vorbereiten, in dem all dies erklärt ist.
Es könnte sein, dass du deine Studie beim Ethik-Kommittee deiner Uni anmelden musst. Um den Ethik-Check zu bestehen, benötigst du einen Entwurf deines „Informed Consent“ Dokuments.
Werden die Ergebnisse der Untersuchung nicht verfälscht, wenn die User wissen, dass sie beobachtet werden? Ja, das nennt man Consent-Bias und ist eine Limitation der Netnographie. Du hast hier jedoch kaum eine Wahl, denn eine Beobachtung ohne die Zustimmung der User wird von fast jedem Ethik-Kommittee der Welt als unethisch eingestuft.
#4 Inititale Interview Phase
In dieser Phase beginnst du mit der Recherche der Communities und Online-Orte. Das kannst du über zwei Wege tun:
- Du recherchierst die Communities direkt, z.B. über Suchmaschinen
- Du identifizierst zuerst die Individuen und findest dann heraus in welchen Communities oder an welchen Orten sie sich mit anderen austauschen
Bei beiden Wegen empfiehlt Kozinets sogenannte initiale Interviews. Du sprichst also mit den Individuen oder z.B. dem Admin einer Community, um diese besser zu verstehen.
Am Ende dieser Phase solltest du eine Liste an möglichen Communities erstellt haben, die für deine Netnographie infrage kommen. Die Interviews mit den Interviews der Communities, die es in deine Netnographie schaffen, kannst du später wiederverwenden.
#5 Inspektions-Phase
Führst du eine Netnographie durch, hast du die Qual der Wahl. Anders als bei der klassischen Ethnographie steht dir das gesamte Internet zur Verfügung und alle möglichen Kombinationen, Gruppen und Plattformen.
Vergleiche also die Liste deiner potenziellen Communities mit deiner Forschungsfrage und triff eine Entscheidung, welche Communities du untersuchen möchtest. Überlege dir genau warum du diese Wahl triffst, damit du diese Entscheidung in deinem Forschungsdesign-Kapitel begründen kannst.
#6 Interaktions-Eintritts-Phase
Schauen wir mal ob Kozinets es schafft, alle Phasen mit „I“ beginnen zu lassen.
In dieser Phase geht es darum, dass du dir eine Strategie überlegst, wie du die Interaktion mit den Usern der Community gestaltest.
Du weißt aus meinen anderen Tutorials sicherlich schon, dass es teilnehmende und nicht-teilnehmende Beobachtungen gibt. Dieses Prinzip von minimaler bis hin zu maximaler Einmischung durch dich als forschende Person gilt auch für Netnographien.
Eine niedrige Teilnahme wäre z.B. dass du in einem Online-Forum lediglich mitliest und selbst nicht mit den Usern interagierst. Eine hohe Teilnahme wäre z.B. das Führen von Interviews mit den Usern der Community oder dass du selbst einen Beitrag verfasst.
Da diese direkte Interaktion auf der Ebene der Community jedoch oft zu invasiv ist, schlägt Kozinets eine Iteraktions-Forschungs-Webseite vor. In diesem Fall erstellst du selbst eine Webseite, die getrennt von der eigentlichen Community ist.
Diese Webseite beherbergt dann die Interaktion zwischen dir und den Individuen. Das hat den Vorteil, dass du von allen die Zustimmung hast und auch Teile der Community mit dir interagieren können, während andere es nicht tun, wenn sie es nicht wollen.
Beispiele für solche Webseiten findest du reichlich in Kozinets Buch. Du musst deine Interaktions-Webseite natürlich nicht selbst programmieren, sondern kannst einfach bestehende Lösungen verwenden und für deine Zwecke anpassen.
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#7 Immersions-Phase
In der siebten Phase begibst du dich selbst ins Feld und beginnst damit, in regelmäßigen Abständen mit den Daten, den Themen und den Individuen zu interagieren.
Über welchen Zeitraum du das tust und wie deine Immersion konkret aussieht, hängt ganz von dir und deiner Studie ab. Für Inspiration empfehle ich dir, die Forschungsdesign-Kapitel von publizierten Netnographien zu lesen. Dort beschrieben die Forscher:innen genau, wie diese Phase bei ihnen aussah.
Mach dich am Anfang dieser Phase nicht verrückt. Es gibt kein richtig oder falsch, kein zu viel oder zu wenig. Das Verständnis für deine Community und dein Netnographie-Projekt wächst über die Zeit. Je mehr du dich ins Feld begibst, desto besser entfaltet sich ein Gesamtbild vor deinen Augen und die nächsten Schritte kommen von ganz allein.
#8 Indexierungs-Phase
In dieser Phase geht es darum, deine Daten zu organisieren. Oftmals hast du mehr Daten zu deiner Verfügung, als du überhaupt auswerten kannst.
Nun geht es also darum eine überschaubare, aber dennoch aussagekräftig Menge an Daten zusammenzustellen, mit der du deine Auswertung fortsetzen möchtest.
Dazu musst du deine Daten bewerten. Was sind besonders wichtige Datenquellen und was kann vernachlässigt werden?
Es ist hier ratsam, lieber weniger Daten, die dafür aber von hoher Qualität sind, auszuwählen, anstatt viele Daten von geringer Qualität.
#9 Interpretations-Phase
In der Wahl der Auswertungsmethode bist du frei. Es bieten sich Methoden der qualitativen Sozialforschung an, die für eine interpretivistische Herangehensweise stehen. Dazu zählen alle Methoden, die nach dem Prinzip der Hermeneutik funktionieren. Aber auch phänomenologische, existenzielle oder humanistische Ansätze sind möglich.
Eine typische Auswertungsmethode, die gut mit der Netnographie vereinbar ist, sind die Techniken der Grounded Theory. Auf meinem Kanal findest du reichlich Tutorials zu allen möglichen qualitativen Auswertungsmethoden.
#10 Iterations-Phasen
Wenn du dich bereits mit der Hermeneutik, der Grounded Theory oder anderen qualitativen Ansätzen vertraut gemacht hast, dann wird dir diese Phase bekannt vorkommen.
Auch die Netnographie läuft nicht linear ab. Das heißt, alle Schritte, die du hier lernst, werden nicht von 1 bis 12 hintereinander durchgeführt und du bist fertig.
Die Netnographie will in Iterationen ablaufen, weshalb die Schritte als Kreislauf zu verstehen sind. Du kannst (und sollst) in jeder Phase deiner Netnographie zurückgehen und Schritte wiederholen, wenn du es als sinnvoll erachtest.
Hast du eine wichtige Erkenntnis, durch das Codieren mithilfe der Grounded Theory, gemacht, dann gehe zurück in die Immersions-Phase und halte Ausschau nach genau dieser Erkenntnis. Das ist nur ein Beispiel einer Iteration, es gibt noch viele weitere. Begreife die Phasen also nicht als starr, sondern beweglich.
#11 Instanzierungs-Phase
In der vorletzten Phase geht es darum, deine Netnographie in eine Form zu gießen. Für die meisten von uns bedeutet das: Eine wissenschaftliche Arbeit. Überlege dir also den bestmöglichen Aufbau, um deine Netnographie zu präsentieren.
Auch hier gilt wie immer mein Tipp: Erfinde nicht das Rad neu, sondern hole dir Inspiration von Beispielen, die du selbst gerne liest.
Laut Kozinets gibt es vier verschiedene Formen der Instanzierung einer Netnographie. Diese sind:
- Symbolisch
- Digital
- Auto
- Humanistisch
Auf alle Formen hier einzugehen, würde den Rahmen sprengen. Ich vertraue also darauf, dass du dich in Kozinets Buch schlau machst und deine Netnographie einer dieser Typen zuordnest und deine wissenschaftliche Arbeit dementsprechend ausrichtest.
Die Präsentation deiner Netnographie muss aber nicht immer (nur) ein wissenschaftlicher Text sein. Du kannst deiner Kreativität freien Lauf lassen.
#12 Integrations-Phase
Was passiert nun, da du deine Netnographie abgeschlossen hast? Die ganze Arbeit soll nicht nur gesehen werden, sondern auch Auswirkungen auf die Welt haben.
Das kann eine wissenschaftliche Publikation sein, ein YouTube-Video, ein Workshop, ein Event mit deiner Community.
Was kannst du deiner Community zurückgeben?
Wie können deine Ergebnisse die (Online-)Welt nachhaltig ein kleines Stück besser machen?
Diese Phase endet nicht mit der Abgabe deiner wissenschaftlichen Arbeit.
Die Netnographie ist nun ein Teil von dir und deiner Geschichte.
Wenn du auf dem Weg zu mehr Erfolg im Studium noch ein wenig Starthilfe für deine wissenschaftliche Arbeit benötigst, dann habe noch ein PDF für dich, das du dir gratis herunterladen kannst:
Die 30 besten Formulierungen für eine aufsehenerregende Einleitung