Du steckst in der Anfangsphase deiner Abschlussarbeit und hast entschieden, dass du – um an empirische Daten zu gelangen – Interviews führen möchtest. Aber jetzt stellt sich die Frage: Wie viele Interviews brauchst du wirklich? 5? 10? 50?
Keine Frage bekomme ich öfter gestellt als diese, und die Antwort ist – es kommt darauf an.
Aber keine Panik, in diesem Artikel erkläre ich dir wie du die optimale Anzahl an Interviews für deine Studie festlegst.
Inhaltsverzeichnis
Warum gibt es NICHT die eine Antwort?
Du hast vielleicht schon mal gehört: „In der qualitativen Forschung gibt es keine festen Regeln.“ Aber was bedeutet das eigentlich? Anders als in der quantitativen Forschung, bei der die Größe der Stichprobe oft auf statistischen Berechnungen basiert, ist die qualitative Forschung da etwas flexibler. Jede qualitative Studie verfolgt andere Ziele und verwendet andere Methoden. Diese Variabilität führt dazu, dass es keine festgelegte Anzahl an Interviews gibt, die immer passt – sondern nur Richtwerte und Empfehlungen.
Aber zum Glück haben sich Wutich und Kollegen in ihrem Paper (2024) genau mit dieser Frage beschäftigt und ein Flowchart entwickelt, mit dem du Schritt für Schritt zur passenden Interviewanzahl kommst.
Laut der Autoren hängt die Interviewanzahl stark vom Forschungsziel und der Methode ab. Das heißt, du solltest zuerst klar definieren, was du mit deiner Studie erreichen möchtest und welche Art von Erkenntnis am Ende dabei herauskommen soll. Die Wahl der passenden Interviewanzahl richtet sich dann nach dem Ziel deiner Forschung und danach, wie tief du in das Thema eintauchen möchtest.
Im Paper von Wutich et al. (2024) werden verschiedene Empfehlungen vorgestellt, die dir dabei helfen, die Interviewanzahl besser einzugrenzen, ohne dich starr an einer Zahl festhalten zu müssen. Ein zentraler Begriff hierbei ist die Sättigung – der Punkt, an dem zusätzliche Interviews keine neuen Informationen mehr liefern.
Die fünf wichtigsten Ansätze zur Bestimmung der Interviewanzahl
Das Flowchart beginnt mit der Frage, welches Ziel du mit deiner Forschung verfolgst. Je nachdem, ob du eine breite Übersicht der Themen oder eine tiefgehende Analyse möchtest, brauchst du eine andere Datenmenge.
Themen-Sättigung
Wenn dein Ziel darin besteht, eine allgemeine Übersicht über die wichtigsten Themen in deinem Forschungsbereich zu gewinnen, wird die sogenannte Themen-Sättigung angestrebt. Diese tritt ein, wenn keine neuen Themen mehr auftauchen und du alle relevanten Aspekte deines Forschungsthemas identifiziert hast. Wutich et al. (2024) empfehlen für diese Art der Sättigung etwa neun Interviews oder vier Gruppendiskussionen. Die Themen-Sättigung ist ideal für Studien, die einen Überblick über zentrale Themenfelder geben sollen, z.B. wenn du die Hauptstressfaktoren unter Studierenden untersuchen willst.
Ein Beispiel: Stell dir vor, du untersuchst das Thema „Stress im Studium“ und fragst, welche Faktoren Studierende als stressig empfinden. Wenn sich nach mehreren Interviews die genannten Stressfaktoren wie Prüfungsdruck und Zeitmangel wiederholen und keine neuen Aspekte mehr auftauchen, hast du die Themen-Sättigung erreicht.
Bedeutungs-Sättigung
Für Studien, die nicht nur Themen erfassen, sondern auch die Bedeutungen und Interpretationen dieser Themen aus Sicht der Befragten verstehen wollen, ist die Bedeutungs-Sättigung relevant. Hier ist das Ziel, die Details zu erfassen, die mit einem Thema verbunden sind. Laut Wutich et al. (2024) wird die Bedeutungs-Sättigung in der Regel durch etwa 24 Interviews oder acht Gruppendiskussionen erreicht.
Ein Beispiel: Du untersuchst, wie Studierende Prüfungsstress erleben. Anstatt nur die Faktoren zu erfassen, willst du verstehen, wie sie diesen Stress wahrnehmen. Für einige könnte Prüfungsstress durch Perfektionsdruck entstehen, für andere durch Zeitmangel oder fehlende Unterstützung. Sobald du die verschiedenen Perspektiven vollständig erfasst hast und keine neuen Bedeutungen auftauchen, hast du die Bedeutungs-Sättigung erreicht.
Theoretische Sättigung
Dieser Ansatz findet häufig in der Grounded Theory Anwendung, einer Methode, bei der das Ziel darin besteht, eine Theorie zu entwickeln, die neue Erkenntnisse über ein Phänomen liefert. Hier geht es darum, Zusammenhänge und Muster zwischen verschiedenen Themen zu verstehen und eine theoretische Grundlage zu erarbeiten. Für die theoretische Sättigung, so Wutich et al. (2024), sind häufig 20 bis 30 Interviews oder mehr erforderlich, je nachdem, wie komplex die zu entwickelnde Theorie ist.
Ein Beispiel: Stell dir vor, du willst eine Prozess-Theorie zur Stressbewältigung im Studium entwickeln und herausfinden, wie verschiedene Strategien über die Zeit zusammenwirken. Um eine umfassende Theorie zu entwickeln, brauchst du detaillierte Daten, die verschiedene Perspektiven und mögliche Zusammenhänge abdecken. Die theoretische Sättigung ist erreicht, wenn weitere Interviews deine Theorie, die du in der Zwischenzeit Stück für Stück entwickelt hast, nicht weiter verbessern.
Sobald du diesen Punkt erreicht hast, stoppst du mit der Datensammlung. Dabei ist es egal ob du bei 23, 35 oder 42 Interviews landest. Das Ergebnis zählt – nicht die Anzahl der Interviews.
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Metathemen-Sättigung
Die Metathemen-Analyse ist eine Methode, die ursprünglich dazu entwickelt wurde, kulturelle Unterschiede in der Sprache zu untersuchen. Später hat sich dieser Ansatz zu einer Mixed-Methods-Methode entwickelt, die übergeordnete Themen aus qualitativen Daten herausarbeitet. Dabei werden sowohl qualitative Daten als auch quantitative Analysen von Wortbedeutungen oder Codes kombiniert.
In der neuesten Forschung wird die Metathemen-Analyse eher qualitativ angewendet, um aus Datensätzen, die an verschiedenen Orten oder in verschiedenen Kulturen gesammelt wurden, gemeinsame Themen zu identifizieren und zu vergleichen. So kann man große Themen, die in allen Datensätzen auftauchen, besser herausarbeiten und Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Orten feststellen.
Normalerweise braucht man 20–40 Interviews pro Standort, um eine solide Liste der Hauptthemen zu erstellen und häufige Varianten der Themen innerhalb eines Standorts zu erkennen.
Ein Beispiel: Du untersuchst das Thema „Stress im Studium“ und befragst Studierende in Deutschland und in den USA. Um Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Ländern herauszuarbeiten, führst du für jede Gruppe Interviews, bis sich die zentralen Themen in jeder Gruppe wiederholen.
Sättigung in der Salienz
Bei der Sättigung in der Salienz liegt der Fokus auf den Themen, die den Befragten besonders wichtig sind. Für diese Art der Sättigung wird oft die sogenannte „Free Listing“-Methode genutzt, bei der die Teilnehmenden gebeten werden, die für sie wichtigsten Themen oder Herausforderungen zu nennen. Diese Sättigung ist erreicht, wenn sich die Listen der Befragten nach einer Weile wiederholen. Wutich et al. (2024) empfehlen hierfür oft zehn ausführliche „Free Lists.“
Ein Beispiel: Wenn du Studierende bittest, die größten Herausforderungen im Studium zu nennen, und nach etwa zehn Listen keine neuen Themen mehr auftauchen, hast du die Sättigung in der Salienz erreicht. Diese Methode ist nützlich, wenn du schnell die zentralen Themen identifizieren willst, die für die Befragten am relevantesten sind.
Wie du das Flowchart Schritt für Schritt anwendest
Jetzt, da du die 5 Sättigungsarten kennst, lass uns kurz den Ablauf des Flowcharts durchgehen, um die Interviewanzahl für deine Studie zu bestimmen:
- Forschungsziel festlegen: Überlege dir, welches Ziel du mit deiner Forschung verfolgst. Willst du einen Überblick über ein Thema gewinnen oder tiefere Bedeutungen und Zusammenhänge erfassen, zum Beispiel in Form einer eigenen Theorie oder einem Modell?
- Passende Sättigungsart auswählen: Wähle die Sättigungsart, die zu deinem Ziel passt – z.B. Themen-Sättigung für einen Überblick oder theoretische Sättigung für eine Theorieentwicklung.
- Interviewanzahl festlegen: Starte mit den Empfehlungen von Wutich et al., z.B. neun Interviews für Themen-Sättigung oder 20 bis 30 für theoretische Sättigung.
- Datenanalyse und Anpassung: Analysiere die Daten und überprüfe, ob die Sättigung erreicht ist. Falls noch neue Themen oder Bedeutungen auftauchen, führe gegebenenfalls weitere Interviews.
- Schlussfolgerungen ziehen: Sobald die Sättigung erreicht ist und keine neuen Erkenntnisse hinzukommen, hast du die passende Interviewanzahl für deine Forschung gefunden.
Praktische Tipps zur Festlegung der Interviewanzahl
Auch wenn das Flowchart eine solide Orientierung bietet, spielen auch praktische Faktoren eine Rolle. Zum Beispiel der Fakt, dass du nur einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung hast, um deine wissenschaftliche Arbeit anzufertigen. Hier einige Tipps, um die eben besprochenen Empfehlungen effizient umzusetzen:
- Flexibilität bewahren: Die qualitative Forschung ist dynamisch. Während deiner Datenerhebung kann es sein, dass du die Interviewanzahl anpassen musst – sei es, weil neue Themen auftauchen oder sich vieles wiederholt. Starte mit einer ungefähren Zahl und passe sie bei Bedarf an.
- Pilotinterviews nutzen: Pilotinterviews sind eine gute Möglichkeit, einen ersten Eindruck zu gewinnen und die Passgenauigkeit deiner Fragen zu überprüfen. Sie helfen dir auch einzuschätzen, wie viele Interviews du für eine vollständige Themenabdeckung benötigst.
- Zeit und Ressourcen einplanen: Interviews und ihre Analyse sind zeit- und ressourcenintensiv. Überlege daher genau, wie viele Interviews du praktisch bewältigen kannst, ohne die Qualität deiner Arbeit zu gefährden.
- Fokus auf die Qualität der Daten: Eine tiefgehende Analyse einer kleineren Anzahl an Interviews kann oft mehr wert sein als eine oberflächliche Analyse vieler Gespräche. Wutich et al. (2024) betonen, dass die Qualität der Daten oft wichtiger ist als die Quantität. Das kann ich nur bestätigen.
Quelle: Wutich, A., Beresford, M., & Bernard, H. R. (2024). Sample Sizes for 10 Types of Qualitative Data Analysis: An Integrative Review, Empirical Guidance, and Next Steps. International Journal of Qualitative Methods, 23, 1-14.
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