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Selektives Kodieren: Grounded Theory

Selektives Kodieren: Grounded Theory

Du hast deine Daten offen kodiert, Kategorien gebildet und Zusammenhänge hergestellt – aber wie wird aus all den Einzelteilen eine sinnvolle Theorie? Die Antwort liegt im letzten Schritt des Grounded-Theory-Prozesses. Selektives Kodieren ist der methodisch anspruchsvollste, aber auch entscheidendste Teil deiner Analyse.

In diesem Beitrag zeige ich dir, wie du Schritt für Schritt zu deinen zentralen Kategorien gelangst und daraus eine theoretisch fundierte Erklärung entwickelst.

Der Grounded Theory Prozess

In der Grounded Theory folgt die Datenauswertung einem zirkulären, iterativen Prozess.
Du hast zunächst im offenen Kodieren die Daten kodiert und erste Codes gebildet.
Im axialen Kodieren hast du diese Codes systematisch geordnet und in Kategorien zusammengefasst.

Was jetzt noch fehlt: die übergeordnete Struktur. Die Antwort auf die Frage: Welches zentrale Muster zieht sich durch die Daten – und wie lässt es sich theoretisch einordnen?

Was ist selektives Kodieren?

Selektives Kodieren bedeutet nicht einfach, die am häufigsten auftretende Kategorie auszuwählen und zur zentralen Kategorie zu befördern.

Es bedeutet vielmehr, aus der Vielzahl von Konzepten und Kategorien, die du vorliegen hast, einen Roten Faden zu ziehen, der alle Kategorien logisch miteinander verbindet. Dieser rote Faden wird auch „zentrales Konstrukt“ oder „zentrale Kategorie“ genannt. Manchmal sind es auch zwei. Sie liegen auf dem Abstraktionsgrad noch eine Stufe höher als deine Kategorien. Diese zentrale Kategorie bildet metaphorisch gesehen die theoretische Klammer deiner Analyse. Sie ist das zentrale Erklärungsmuster deiner Studie.

Wichtig dabei ist: Selektives Kodieren ist kein separater letzter Schritt, sondern steht in ständiger Wechselwirkung mit dem offenen und axialen Kodieren. In der Praxis ist es ein iterativer Abgleich: Sobald du eine erste Idee hast, was deine zentrale Kategorie sein könnte, prüfst du wie gut sie passt, während du weiter kodierst, vergleichst und theoretisch modellierst.

Selektives Kodieren: Grounded Theory

Wie erkennt man eine zentrale Kategorie?

Eine zentrale Kategorie erfüllt vier zentrale Kriterien:

  1. Theoretische Zentralität: Sie integriert möglichst viele andere Kategorien logisch.
  2. Hohe analytische Reichweite: Sie ist nicht nur deskriptiv (z.B. „Motivation“), sondern interpretativ bzw. erklärend (z.B. „Selbstregulierung als Bewältigungsstrategie“).
  3. Verankerung im Datenmaterial: Sie findet sich nicht nur häufig, sondern ist durch konstantes Vergleichen mit unterschiedlichen Fällen fundiert.
  4. Beitrag zur Theorieentwicklung: Sie ist so formuliert, dass du darauf eine Erklärung (nicht nur eine Beschreibung) aufbauen kannst.

Unterscheide also klar zwischen:

  • Deskriptiven Kategorien wie „Frust mit Technik“. Diese beschreiben lediglich, was im Datenmaterial gesagt wird – also zum Beispiel, dass jemand genervt von einer App ist oder Schwierigkeiten mit einem Programm hat. Das ist eine wertvolle Beobachtung, aber erklärt noch nicht, warum etwas geschieht.
  • Abstrakten, theoretischen Kategorien wie „Technikabhängigkeit als Stressor“. Diese gehen über die Beschreibung hinaus: Sie fassen mehrere ähnliche Aussagen zusammen und deuten darauf hin, dass nicht nur einzelne technische Probleme belastend sind, sondern dass es ein strukturelles Phänomen gibt – etwa ein Gefühl der Abhängigkeit, das mit Kontrollverlust einhergeht.

Ein häufiger Denkfehler: Man sucht sich die zentrale Kategorie „aus“. Tatsächlich entsteht sie im Laufe des Forschungsprozesses – durch permanentes Vergleichen, durch Memos und durch Rückbezüge auf die Daten. Das bedeutet auch: Es kann sein, dass du eine Kategorie zunächst für zentral hältst und später verwirfst, weil sie sich nicht bewährt. Sie sollte außerdem abstrakter sein als die Kategorien, die du systematisch während des axialen Kodierens erstellt hast.

Selektives Kodieren: Grounded Theory

Ein praktisches Beispiel: Lernverhalten unter dem Einfluss von KI

Angenommen, du analysierst Interviews mit Studierenden über ihre Nutzung von KI-Tools beim Lernen.
Nach dem offenen Kodieren hast du mehrere Kategorien gebildet, darunter:

  • „Prüfungsvorbereitung“
  • „Skepsis gegenüber KI“
  • „Veränderung des Lernverhaltens“
  • „Vertrauen in Technologie“
  • „Strategien zur Effizienzsteigerung“
  • „Grenzen automatisierter Unterstützung“

Im axialen Kodieren hast du diese Kategorien systematisch in Beziehung gesetzt. Du erkennst z. B., dass Skepsis häufig mit fehlendem Vertrauen in Technologie zusammenhängt, während Strategien zur Effizienzsteigerung eng mit der Veränderung des Lernverhaltens verknüpft sind.

Jetzt beginnst du mit dem selektiven Kodieren.

Du stellst fest: Die Kategorie „Veränderung des Lernverhaltens“ taucht in fast allen Interviews auf – unabhängig davon, ob die Studierenden KI kritisch oder begeistert nutzen. Sie steht im Zentrum vieler Aussagen:

  • Wer ChatGPT nutzt, strukturiert seine Lernprozesse um
  • Wer skeptisch ist, bleibt bei bewährten Methoden – hat aber zugleich Zweifel, ob das reicht
  • Die Prüfungsvorbereitung verändert sich durch automatisierte Unterstützung wie Feedback, Zusammenfassungen oder Prüfungsfragen

Diese Kategorie ist aber eher eine Beschreibung und bietet nicht das Potenzial, ein zentrales Erklärungsmuster zu werden.

Du entscheidest dich also, „Aushandeln lernstrategischer Autonomie“ als zentrale Kategorie zu entwickeln.

Diese Kategorie fängt ein, wie Studierende aktiv abwägen, wie viel Kontrolle sie behalten, wie stark sie sich auf KI verlassen, und wo sie eigene Strategien anpassen oder verteidigen. Sie integriert Skepsis, Vertrauen, Effizienzstrategien, Grenzen der Technologie und Prüfungsvorbereitung – alles als Teil eines übergreifenden Prozesses, bei dem Studierende ihre Lernidentität neu kalibrieren.

Im selektiven Kodieren fokussierst du dich jetzt gezielt auf alles, was damit zusammenhängt. Das heißt du gehst deine Daten, Memos und Codes noch mal durch und suchst gezielt nach Erklärungen und Beispielen, die deine zentrale Kategorie stützen. Vielleicht führst du sogar noch ein paar weitere Interviews, um mehr Klarheit zu erlangen und fragst konkret danach, wie Studieren ihre „lernstrategische Autonomie“ mit sich selbst aushandeln.

Selektives Kodieren: Grounded Theory

Entwicklung eines theoretischen Modells

Währenddessen beginnst du, ein theoretisches Modell zu entwickeln, z. B. mit folgenden Elementen:

  • Bedingungen: Vertrauen in KI, institutionelle Rahmenbedingungen, eigene Vorerfahrungen
  • Strategien: Verwendung von KI zur Texterstellung, Erklärung komplexer Inhalte, Übung von Prüfungsfragen
  • Konsequenzen: Effizienzgewinne, aber auch oberflächliches Lernen, Unsicherheit über die eigene Leistung

Du kannst außerdem Propositionen formulieren, wie:

Je höher das Vertrauen in KI, desto eher verändern Studierende ihr Lernverhalten zugunsten automatisierter Strategien – was sowohl Effizienzgewinne als auch neue Unsicherheiten mit sich bringt.

Daraus entwickelst du den Entwurf eines Modells, das z. B. folgendermaßen aussieht:

Vertrauen in KI
        ↓
Veränderung des Lernverhaltens ←→ Strategien zur Effizienzsteigerung
        ↓
Qualität des Lernprozesses / Prüfungserfolg / Lernreflexion

Dieses Modell stellt die theoretischen Zusammenhänge in vereinfachter Form dar:

  1. Vertrauen in KI ist eine Voraussetzung. Studierende müssen Vertrauen in das Tool haben, um es aktiv in ihren Lernprozess zu integrieren.
  2. Daraus folgt eine Veränderung des Lernverhaltens, die im Zentrum der Analyse steht. Diese Veränderung steht in wechselseitiger Beziehung zu Strategien zur Effizienzsteigerung, sie beeinflussen sich gegenseitig.
  3. Am Ende wirken sich diese Prozesse auf die Qualität des Lernprozesses aus: also auf Lerntiefe, Prüfungserfolg oder die Reflexion des eigenen Lernens.

Hinweis: Solche Aussagen und Modelle sind keine Hypothesen im klassischen, quantitativen Sinn. Sie stellen theoriegeleitete Interpretationen dar, die aus der zentralen Kategorie hervorgehen. Auch Präpositionen genannt. Ziel ist es, komplexe Zusammenhänge auf Basis der Daten verständlich und theoretisch nachvollziehbar darzustellen. Später kann dann jemand damit weiterarbeiten und sie in einer quantitativen Studie testen.

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Typische Probleme und wie du sie überwindest

Problem 1: Die zentrale Kategorie ist rein beschreibend
In diesem Fall solltest du prüfen, ob du die Kategorie theoretischer formulieren kannst. Frage dich: Was erklärt diese Kategorie? Geht sie über die reine Beschreibung hinaus? Falls nicht, versuche, sie in einen interpretativen Zusammenhang zu stellen.

Problem 2: Es gibt mehrere gleichstarke Kategorien
Wenn du dich nicht entscheiden kannst, welche Kategorie im Zentrum stehen soll, vergleiche sie systematisch. Achte darauf, welche die größte Reichweite hat, welche andere Kategorien logisch miteinander verknüpft und welche das größte Erklärungspotenzial bietet. Du kannst auch mehrere zentrale Kategorien haben. Das es nur eine gibt, die „core category“ stammt aus Strauss und Corbin’s Empfehlungen, aber denen musst du ja nicht zwangsläufig folgen. Wenn du mehr als eine zentrale Kategorie hast, wird deine Theorie eben nur komplizierter.

Problem 3: Du hast das Gefühl, dass „alles wichtig“ ist
Dieser Eindruck ist verständlich, aber selektives Kodieren lebt von Fokussierung. Überlege bewusst, welche Kategorien wirklich zur Beantwortung deiner Forschungsfrage beitragen – und welche du vernachlässigen oder unterordnen kannst. Weniger ist oft mehr! Hier kommt das Prinzip der Parsimonität ins Spiel. Das heißt, dass eine Theorie oder ein Modell möglichst einfach, klar und ökonomisch sein sollte – ohne unnötige Komplexität, aber mit maximaler Erklärungskraft.

Memo

Die Rolle von Memos und theoretischem Sampling

Ein oft unterschätzter Bestandteil des selektiven Kodierens ist das Schreiben von Memos. Memos helfen dir, deine Überlegungen zur zentralen Kategorie zu dokumentieren, Widersprüche im Material zu reflektieren und erste theoretische Aussagen festzuhalten. Besonders in dieser Phase ist es wichtig, nicht nur das „Was“, sondern auch das „Warum“ und „Wie“ festzuhalten. Frage dich beim Memoschreiben zum Beispiel:

  • Warum erscheint mir diese Kategorie theoretisch tragfähig?
  • Welche neuen Bedeutungen ergeben sich durch Vergleiche mit anderen Kontexten?
  • Welche offenen Fragen ergeben sich – und wie könnte ich sie weiter untersuchen? Brauche ich dazu neue Daten?

Außerdem spielt das theoretische Sampling eine wichtige Rolle: Du erhebst neue Daten nicht zufällig, sondern gezielt, um deine zentrale Kategorie weiter zu überprüfen, zu verfeinern oder in andere Kontexte zu übertragen.

Dabei ist es nur wichtig, dass du irgendwann ein Ende findest. Setze dir selbst eine „Stopp“ Regel. In der Grounded Theory Literatur wird diese oft mit der theoretischen Sättigung gleichgesetzt. Was das genau ist, schauen wir uns aber in einem anderen Beitrag an.

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